Geschichtsströme und Brückenschlag

Am Anfang war die Neiße, am Anfang war die Straße, am Anfang war der Neißeübergang. Unsere Stadt, erstmals im Jahre 1071 als „villa goreliz“ urkundlich erwähnt, verdankt seine Erfolgsgeschichte wesentlich dem Wasser. Das kleine rundlingsartige slawische Dorf lag an den Ufern der Lunitz, aber über der Hochwassergrenze. Ganz in der Nähe befand sich eine Furt über die Neiße.

Ausschlaggebend für die Entwicklung eines Ortes ist ein gut ausgebildetes Kommunikationssystem mit Landverbindungen wie Steige, Wege und Straßen mit ihren Pässen, Brücken und Furten.

Görlitz lag an der „Hohen Straße“ oder „via regia“, der damals wichtigsten Ost–West–Trasse Mitteleuropas von Santiago de Compostela, über Breslau nach Kiew. Etwa Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelte sich in der Nähe des Dorfes direkt an der via regia (heute Steinstraße) eine deutsche Kaufmannssiedlung (Pfefferzins im Tafelgüterverzeichnis 1152/53) zu welcher eine 

Nikolaikirche gehörte. Auf dem anstoßenden Bergsporn über der Neiße wurde im Jahre 1126 an einer böhmischen Burg gebaut (Vogtshof). Besonders die um das Jahr 1200 die Oberlausitz erreichende deutsche Ostkolonisation, in deren Verlauf hunderttausende Bauern aus den Altsiedelgebieten in das dünn besiedelte Territorium östlich der Saale und Elbe zogen, begünstigte die Entstehung der mittel- und ostdeutschen Städte als Handelsplätze, Handwerkszentren und Orte in denen man ausspannen, rasten konnte. Dorf und Stadt waren aufeinander angewiesen. 

So dass mit der bäuerlichen Besiedlung zugleich die Entstehung von Städten beginnt. Die Städte entstanden etwa im Abstand von einer Tagesreise an den Hauptverkehrswegen. Zudem entwickelte sich mit der 

Kolonisation die Landesherrschaft. Militärische Beherrschung und Sicherung eines Territoriums, erforderten die permanente Einsatzmöglichkeit bewaffneter Truppen. Man musste, zu jeder Zeit das andere Ufer der Neiße erreichen können. Dies konnte mit einer Furt nicht gesichert erfolgen (Hochwasser, Eisgang ...). Der böhmische Landvogt und seine Burgbesatzung benötigten aus diesem Grunde eine Brücke. Im Schutze der Burg errichtete man deshalb sehr planmäßig eine neue Siedlung, welche bis in das 19. Jahrhundert hinein den mauerbewährten Kern der Stadt bildete. Im Jahre 1528 antwortete der Stadtschreiber Johannes Hass seinem Landesherren dem böhmischen König Ferdinand auf die Frage was der Stadt Nahrung sei folgendes: „Des burgers Nahrung stunde auff dem bier breuen und hetten iren hendel, am meisten mit Gewande, denn es weren viel tuchmecher bey uns“.

In Görlitz entwickelte sich im 14. und 15. Jahrhundert eine relativ schnell für den Export produzierende Tuchmacherei. Die Görlitzer Tuchweberei stand in ihrer Blütezeit auf einer Stufe mit den Zentren des europäischen Textilgewerbes: mit der Florentiner und flandrischen Wolleindustrie, der Seidenindustrie von Genua und Venedig und der Augsburger Baumwollweberei. In Görlitz lebten um das Jahr 1500 über 10.000 Einwohner. Görlitz zählte zu den Städten Deutschlands die nahezu die Größe einer frühneuzeitlichen Großstadt erreicht hatten. So gelangte die Stadt zu ihrer ersten Blüteperiode, von der bis heute die großartige gotische und Renaissancearchitektur zeugt. Auch die zweite Blüteperiode im 19. Jahrhundert ist eng mit Fluss und Brücken verbunden, ermöglicht durch die kluge Stadtentwicklungspolitik des Oberbürgermeisters Demiani. Besonders der im Jahre 1847 begonnene Anschluss an die Eisenbahnen mit Verbindungen nach Dresden, Breslau, Berlin, Zittau, Prag und zum Riesengebirge wurde für die Stadtentwicklung und Industrialisierung entscheidend. Das 475 m lange und 35 m hohe von 30 Bogen getragene Viadukt 1847 durch den Baumeister Kießler geschaffen, gehörte zu den kühnsten Brückenbauten der Zeit. Mit der Eisenbahn kamen die dringend benötigten Arbeiter aus Schlesien nach Görlitz, mit der Eisenbahn entstand der Waggonbau in Görlitz. Die Firma Lüders wurde ein Weltunternehmen. An den Ufern der Neiße entstanden die ersten Fabriken deren Maschinerien von Dampfmaschinen bewegt wurden. Sieben Brücken verbanden nun die Ufer mit völlig neuen Stadtteilen. Niemals in der Geschichte bildete der Neißefluss eine Grenze zwischen Völkern und Staaten. Insofern bilden die Ereignisse des Jahres 1945 als Folge der Verbrechen des Dritten Reiches die gewichtigste Zäsur auch unserer Stadtgeschichte. Die Stadt wurde geteilt und lag nun an einer Staatsgrenze, welche zwei Völker trennte, die sich nach dem Grauen misstrauisch, ja feindlich betrachteten. Es brauchte lange Zeit ehe Polen und Deutsche ihre Ressentiments überwanden und wieder menschliche und steinerne Brückenschläge wagten. 

Die europäische Einigung seit 1989/90 ebnete auch in Görlitz und Zgorzelec zu neuen Brückenschlägen. Im Jahre 2002 errichten quasi in einer Nacht– und Nebelaktion die Wirte der beiden Mühlenrestaurants an den Brückenköpfen der gesprengten Altstadtbrücke einen hölzernen Steg auf dem man die Köstlichkeiten beider Städte genießen konnte. Endlich im Jahre 2004 war sie wieder auferstanden, wie Phönix aus der Asche: die Altstadtbrücke. Zum Görlitzer Altstadtfest strömten damals Tausende über diese so symbolträchtige Verbindung zwischen den beiden Schwesternstädten und feierten gemeinsam auf beiden Seiten der Neiße. Ein gemeinsamer Stadtratsbeschluss ermöglichte die Bewerbung von Görlitz und Zgorzelec zur europäischen Kulturhauptstadt 2010. Sie verstand sich als Baustelle. Der Bau einer gemeinsamen europäischen Kulturhauptstadt, so hofften wir hier, würde Brücken in den Köpfen und Herzen der Görlitzer und Zgorzelecer, Deutschen und Polen schlagen. Essen erhielt den Titel. Die Görlitzer und Zgorzelecer gewannen dennoch. Sie werden auch in Zukunft, bei allen Diskussionen ganz selbstverständlich neue Brücken über das trübe Neißewasser an die Ufer und in die Herzen bauen. 

Siegfried Hoche

Leiter des Ratsarchivs der Stadt Görlitz